Ich fuhr vom Sommerurlaub nach Hause zurück, erholt und müde von der Erholung. Der Autobus war gelb, alt,
ein quietschendes Etwas, ein alte Kiste, wie sie in den Dörfern noch unterwegs waren. Auch an den Gesichtern, den Kleidern und dem Gepäck der Menschen konnte man erkennen, dass der Autobus aus den Dörfern war, nicht zuletzt auch wegen der Hühner, Truthähne, Schweine und Schafe, die da und dort Lärm machten und zappelten. Sitzplatz gab es keinen, doch die Leute stiegen immer noch ein, richteten sich’s auf den Kartoffelsäcken ein und schoben volle Eierkartons, mit Milch und Joghurt gefüllte Cola-Flaschen, Säcke mit Käse, aus denen die Salzlake tropfte, unter die Beine der Sitzenden. Über dem Führerhaus prangte noch irgendwie das Hinweisschild „Der Fahrer passt auf“, das im Laufe der Jahre ziemlich vergilbt war und an ein Relikt aus dem Mittelalter erinnerte. Der Fahrer machte seinerseits keine Anstalten „aufzupassen“, der Willkür einen Riegel vor zu schieben. Mittlerweile gab es nicht einmal mehr einen Stehplatz und die Leute drängten immer noch in den Bus, stiegen einander auf die Füße, schoben und stießen. Erst als der Autobus schon völlig überladen war und sich niemand mehr bewegen konnte, beugte sich der Fahrer aus seinem Verschlag, schaute zurück und schrie: „Vorwärts, vorwärts“. Weil es aber keinen Platz mehr gab, um vorwärts zu gehen und die Leute vor der Tür sich einfach nicht mehr hineinquetschen konnten, fand der Fahrer zu seinem sowjetischen Ordnungssinn zurück und herrschte die übereinander und durcheinander Sitzenden und Stehenden an, sie möchten sich doch „platzieren“. Einige versuchten noch, durch die Fenster hinein zu klettern, weil an der Tür keine Hoffnung mehr war, aber das gelang nur wenigen, offenbar denen, die da schon geübt waren.
Mit 45-minütiger Verspätung zum Fahrplan versuchte sich der Bus endlich in Bewegung zu setzen, allerdings ohne Erfolg. Einige mussten wieder aussteigen, um den Autobus anzuschieben. Dieser verspürte die Erleichterung, gab dem Druck der Anschiebenden nach und rührte sich tatsächlich von der Stelle. Die, die angeschoben hatten, liefen hinterher, um im Fahren wieder aufzuspringen. Die, die drinnen waren, wurden ihrerseits unruhig, schien der Reiz einer gefahrlosen Beförderung vor allem in dem vollkommenen Aneinandergepreßtsein zu liegen, das beim Nachlassen gefährlich werden konnte. Allen, die angeschoben hatten, gelang es, wieder einzusteigen, was auch an den entspannten Gesichtern, am Lächeln der Passagiere abzulesen war, aber auch am Autobus selbst, der nun mit schwerem Ächzen wieder stehen blieb. Die Anschieber stiegen aus, ohne auf einen Befehl zu warten, wissend um ihre Aufgabe. Einigen, den Übergewichtigen, befahl der Fahrer, auszusteigen, um den Bus leichter zu machen und ihn so wieder in Bewegung zu setzen. Dennoch wurde denen, die schoben, nun mehr Anstrengung abgefordert, um den Autobus vom Fleck zu bringen. Während sie nun ächzten und stöhnten, standen die Dicken, deren Hilfe für die dünnen und zarten Anschieber sicherlich unschätzbar gewesen wäre, mit den Händen in den Hüften da und schauten ihnen zu, bereit, beim ersten Weiterrollen wieder zur Tür zu stürzen. Das war sehr erstaunlich und ließ mich erkennen, dass die, die schieben, eigentlich keine Reisenden sind, sondern nur im Autobus sitzen, um ihn im entsprechenden Moment anzuschieben, wofür sie vielleicht sogar entlohnt werden, während die Dicken ihnen nicht helfen, um ihnen die Arbeit nicht weg zu nehmen. Doch das war nicht sehr wahrscheinlich, vielmehr nahmen diejenigen die Aufgabe des Anschiebens auf sich, die nahe der Tür, leicht hinauskommen konnten und entsprechend verantwortungsbewusst waren. Dennoch war ihre Professionalität, die sie an den Tag legten, sowohl beim Anschieben als auch beim wieder Hineinspringen während der Fahrt, ziemlich beeindruckend.
Aber es war nichts damit den Autobus in Bewegung zu bringen. Träge und langsam nahm er zwar Fahrt auf, fuhr einige Radumdrehungen und blieb dann aber wieder stehen. Da beugte sich der Chauffeur wieder aus seinem Führerstand, sah nach hinten und schrie: “Wer hat was Überflüssiges dabei?“. Bleiernes Schweigen. „Leute, ich rede mit euch“, – dann wiederholte er’s noch einmal und diesmal sagte – aus dem bleiernen Schweigen heraus, eine wohlgenährte weibliche Stimme. „Meister, entschuldige, ich hab zwei Kopftücher umgebunden, damit ich mich nicht verkühle, hab ja nicht wissen können, dass … „ Der Fahrer befahl ihr rot vor Wut, eines der Kopftücher sofort aus dem Fenster zu werfen. Als die Frau tat, was er sagte, da geschah ein Wunder. Von selbst, ohne dass jemand schob, setzte sich der Autobus in Bewegung und beschleunigte sogar. „Aha, hab ja nicht wissen können … „, konnte man das Gemurmel des Fahrers aus seinem Führerstand hören.“ Was gibt’s da nicht zu wissen, wenn man zwei Kopftücher umgebunden hat … das arme Autotierchen braucht auch ein wenig Mitleid.“
Mich wunderte nur die Tatsache, dass mich das alles nicht aus der Fassung brachte, und ich beneidete den Fahrer nicht nur um seine Unverschämtheit, die er an den Tag legte, mit der er die Regeln der Sicherheit verletzte und das Leben der Fahrgäste gefährdete, sondern ich versuchte nicht einmal, meiner Unzufriedenheit „Ausdruck zu verleihen“, was so gar nicht nach meiner Natur war. Um das zivilisierte Bewusstsein des Menschen anzusprechen war es hinreichend, einige Repliken an die Adresse des Fahrers loszuwerden, allerdings so, dass er sie nicht hören konnte, wie etwa: „Wir haben Verspätung, Fahrer“ oder
„Wenn die Bremsen nicht funktionieren, wer ist dann verantwortlich?“ oder „Du führst keine Kartoffel herum, Bruder, sondern Menschen.“ Die letzte Bemerkung konnte inmitten von Kartoffel-farbenen Menschen mit Kartoffelgesicherten wohl verletzend klingen, die Welle des Protestes hätte über mir überschwappen können, man hätte gar sagen können. „Na und, was ist schlecht an Kartoffeln?“ oder „Ist die Kartoffel etwa kein Mensch, ha?“ Ich versuchte die Situation für mich selbst zu erfassen und kam zu der Schlussfolgerung, dass im Autobus die Ressourcen zu einer Revolution einfach nicht vorhanden waren. Es wäre nämlich unwahrscheinlich, dass sich die breite Masse des Volkes gegen vitale Bedürfnisse entscheiden könnte, nur um die Lebensqualität einer Minderheit verbessern zu helfen. Dass also jemand sitzend reisen wollte, auf einem richtigen, eigenen Sitzplatz, ohne die Gerüche anderer Körper einatmen zu müssen. Doch diese Gerüche erzeugten in mir keinen Ekel, sondern nur Sympathie, Verständnis und Liebe. Im Kartoffelvergleich lag nicht länger etwas Schlechtes oder gar Verletzendes, weder hinsichtlich der Kartoffelgesichtern, noch hinsichtlich der Kartoffeln selbst. Es waren armselige, geplagte, verbrauchte Menschen, ähnlich bitter lebend wie der Autobus, immer noch dabei, ausgebeutet zu werden. Ich war so ausgeruht und meine Nerven so beruhigt, so unaufgeregt, dass ich mich als einer dieser Menschen fühlte.
„Wo kommen Sie denn her“, versuchte mich, die dicht neben mir sitzende Frau in ein Gespräch hinein zu ziehen. Sie hatte wild gewelltes Harr und einen Zopf, ihr Gesicht von der Sonne verbrannt, ihre Haut ungepflegt, mit großem Hintern, der einer anderen dicken Frau noch Platz gemacht hatte, sodass ich ans Fenster gepresst war. Einem Braut-Jäger, mit dem klassischen Bild junger Mädchen im Badezimmer vor den begierigen Augen sollte diese Aussicht eine ganz persönliche Form der Abscheu vermitteln und auch meinerseits eine kurze und trockene
Antwort mit sich bringen, doch ihre Frage machte mich nur heiter, ohne alle Logik, denn meine Sitznachbarin war im selben Ort eingestiegen und der Autobus fuhr auf der Straße nach Stepanavan.
„Ja“, antwortete ich.
„Fährst du nach Stepanavan?“
„Ja.“
„Hast du Verwandte oder so in Stepanavan?“
„Meine Eltern sind dort.“
„Ah ja“, begeisterte sich die Frau – „Wer sind sie?“
„Ich glaube nicht, dass Sie sie kennen“, sagte ich in der Überzeugung, dass sie sie kennen müsste, denn meine Eltern waren bekannt und geachtet, außerdem kennen in den Provinzstädten alle einander. Ich mochte es nur, sie ein wenig zu quälen, so wie kleine Kinder den Fliegen ihre Flügel ausreißen oder die Katzen am Schwanz ziehen.
„Sag doch, sag“, forderte sie, „sag nur, ich kenne sie sicher.“
„Die Voskanians.“
„Ja, was, … „ Die Frau schaute mich ungläubig an, doch ihre Ungläubigkeit dauerte leider viel zu kurz, so war ich nicht schnell genug, meine Wange wegzudrehen (in Sicherheit zu bringen), die sie gleich schmatzend küsste. „Ai, mein Lieber, ja, was heißt, ich kenn sie nicht, natürlich kenn ich sie“, und sie begann mir über meine Eltern und ihre lange Freundschaft zu ihnen zu erzählen, darüber, was ihr meine Eltern Gutes getan hätten, wie und wie oft sie sich bemüht hätte, nicht in deren Schuld zu bleiben, was sie aber immer noch nicht geschafft hätte, da sie doch soviel Gutes erfahren hätte …“als du ein Jahr alt warst“, sagte sie, …“als du drei Jahre alt warst…“. Und sie erzählte Dinge von meinen Eltern, die zwar nicht lustig waren, sie selbst aber ungemein belustigten, sodass sie jedes Mal, wenn sie sich vom Lachen wieder erholte, tief Atem holte und mich noch fester ans Fenster drückte. „Ach, liebe
Armine, wie groß bist du doch geworden, du bist eine richtige Braut, oi, mein Liebes, als wäre es gestern gewesen …“ Ihr Geschwätz machte mich trotzdem nicht wütend, ich hörte ihr ausgesprochen entspannt zu, ohne sie zu unterbrechen. Ich sagte auch nicht, dass ich nicht die Armine bin, meine 20 Jahre ältere Schwester ist, das hätte aber für meine Sitznachbarin bedeutet, dass sie sich um 20 Jahre geirrt hätte. Ich schaute aus dem Fenster, schaute wie die Landschaft vorbeizog, und versuchte die Worte nicht zu hören und nicht zu verstehen, die zum Großteil auch keinen Sinn hatten und auf mich so beruhigend wirkten wie das Schnurren einer Katze.
Es zeigte sich, dass die Wohltaten meiner Eltern derart umfangreich waren, dass die gar nicht kurze Strecke von X bis Stepanavan gar nicht reichte, um sie alle aufzuzählen. Die Frau vergaß im Reden und Reden, bei ihrer Haltestelle auszusteigen und beschloss mitzukommen, um meinen Vater und meine Mutter zu sehen. Sie hätte sie ja so lange nicht gesehen und außerdem gäbe es da noch Milch, Joghurt, Käse, Huhn und alles Mögliche, noch ein Grund mehr, denn sie könnte meinen Eltern damit ihre Wohltaten vergelten. Dazu hätte Gott der Herr mich, das junge zarte Mädchen geschickt. 30 Kilo, was ist das schon für ein Gewicht, das lässt sich leicht tragen. Um ihr Gleichgewicht nicht zu verlieren und nicht zu fallen, gab sie mir eine schwere Tasche in die Hand. In einer anderen Situation hätte ich mich sicher geweigert, solche Lasten zu tragen, in dem Moment war ich aber sehr entspannt und es nervte mich nicht einmal das flatternde Huhn in der Tasche, dass seinen Kopf dann auch noch herausstreckte und meine Haare zerzauste. Einen Moment, das stimmt, wollte ich`s lassen, doch ich ließ den Gedanken gleich wieder fallen. Das Gepäck war von der Frau so klug verteilt, dass ich hingefallen wäre, wenn ich eins nach dem anderen losgelassen hätte. Es wäre unfein gewesen, darauf hinzuweisen, dass ihr Gepäck etwas weniger oder leichter wäre, sie trug das ihre jedenfalls mit größerer Leichtigkeit, wahrscheinlich war sie einfach an das Tragen von Lasten gewöhnt – jedenfalls war ihre Neigung zum Reden nicht geringer geworden. Mit unverminderter Begeisterung und Hingabe erzählte sie immer noch von meinen Eltern und ihren Wohltaten.
Meine Mutter sprach in unserem Hof mit jemandem. Es war ihre liebe Nachbarin Mariam, die einzige in unserem Viertel, mit der sie gerne zusammen ist, denn sie ist eine Lehrerin, wenn auch nur an einer Musikschule, also nicht an einer Höheren Schule, so wie sie selbst. In der Sowjetzeit, als die Verehrung der Heiligen verboten war, profitierten die Lehrer, denn das Politbüro hatte gerade ihnen (sozusagen) das Tragen eines Heiligenscheins zugestanden. Der Ärztestand war ja auch in den Ländern der Bourgoisie hoch geachtet, aber nur in proletarischen Ländern war für die, denen als Lumpenproletariat der Zugang zu besserer Ausbildung zuvor verwehrt war, das Wissen teurer als das Leben. Wem käme zum Beispiel in den Sinn, dass Ärzte nicht aufs Klo gehen müssen, während jeder sowjetische Bürger in einer bestimmten Phase seines Lebens, manche sogar bis ans Ende ihres Lebens glaubten, dass Lehrer derartige Bedürfnisse nicht hätten. Erst der Zusammenbruch des Sowjetregimes öffnete den Menschen die Augen, und gar nicht wenige Schüler fielen über ihre Lehrer her, wenn sie aus den übel riechenden Schultoiletten kamen. Das kam natürlich auch daher, dass Lehrer nun um einiges weniger verdienten, aber das ist eine andere Geschichte.
Für meine Mutter bestand der größte Vorteil im Lehrersein darin, dass man psychologisch vorgehen konnte, dass man Menschenseelen entschlüsseln konnte, um so über die Kinder Macht auszuüben. Diese Funktion des Lehrersein ist allerdings auf die Klavierlehrer nur mit Vorbehalten anwendbar. Was Mariam betrifft, so ist sie wie alle ihre
Kollegen nervös, streng und grob, mit Ringen unter den Augen und hervortretenden Adern an den Händen. Wie alle anderen Klavierlehrer ist sie in die Tiefen und Abgründe der Psychologie eines Kindes kaum vorgedrungen, was von ausgebildeten Pädagogen eigentlich zu verlangen wäre. Sonst hätte sie wohl Jesus, der vor zwei Jahren starb, nicht so heftig und grausam geschlagen.
Ich wollte Mariam nicht begegnen, da ich ihr immer noch nicht zum Tod ihres Söhnchens Beileid gewünscht hatte. Solche Förmlichkeiten sind mir immer schon schwer gefallen. Besonders unangenehm ist es aber wirklich im Fall eines großen, untröstlichen Leides und Schmerzes - und dass der Schmerz der Mariam ein solcher war, stand wohl außer Zweifel. Beileid wünschen bedeutet, dem Leid des anderen das eigene Leid, den eigenen Schmerz, an die Seite zu Stellen (bei zu geben). Wenn man in sich nun etwas wie Leid und Schmerz spürt, dann empfindet man diesen Schmerz auch wirklich und man bräuchte selbst jemanden, der einem Beileid wünscht. Es geht aber auch ohne Schmerz. So ist das Beileid Wünschen jedenfalls eine gute Erfindung, es befreit einen von der Verpflichtung, Schmerz zu empfinden. Dabei spart man auch Zeit und Gefühle, das könnte sich dann so anhören: „Ich bedauere sehr, dass ich keinen Schmerz empfinde, stattdessen biete ich aber meine Dienste an und bin bereit, Ihren Verlust durch mich selbst zu ersetzen, vorausgesetzt Sie wollen und ich bin dazu in der Lage.“
Doch Jesus war mein Klassenkamerad und auch sehr lieber Spielkamerad, Jesus war ein Teil meiner Kindheit, sein Tod war irgendwie auch mein Tod … Das bedeutet nicht, dass mein Schmerz so groß war, dass mir seine Mutter hätte Beileid wünschen müssen. Der Schmerz, den ich empfinden konnte, war im Vergleich zum Schmerz der Mutter erschreckend klein, war nicht mehr als ein Bedauern und ich wusste, dass ich auf einen größeren Schmerz, ein größeres Leid, auch
keinen Anspruch hatte. Von mir war nur gefordert, Beileid zu wünschen, was in einer ausführlicheren Variante wahrscheinlich so klingen sollte: „Ich respektiere Ihren Schmerz in seinem ganzen Ausmaß, ich habe kein Auge auf Ihren Schmerz geworfen und habe nicht die Absicht, ihn Ihnen wegzunehmen oder aus niederen Beweggründen zu meinem eigenen zu machen“. Doch so gleichgültig war ich gegenüber dem Tod von Jesus auch wieder nicht, dass ich der Mutter hätte einfach Beileid wünschen können. Ehrlich gesagt, ich glaubte auch noch nicht so richtig an seinen Tod. Wenn ich aber Mariam Aug in Aug gegenüberstehen würde, wäre ich gezwungen, endgültig überzeugt sein, dass Jesus tot ist.
Wenn diese Frau nicht mit mir gewesen wäre, ich wäre umgekehrt, hätte mich hinter dem Nachbarhaus versteckt und gewartet, bis meine Mutter und Mariam ihr Gespräch beendet hätten, doch das konnte ich der Frau ja alles nicht erklären, sie war nicht in der Lage, solche psychologischen Feinheiten wahrzunehmen, sie würde mich für nicht zurechnungsfähig halten oder mich gar vor Mariam in eine unmögliche Lage bringen. Meine einzige Hoffnung war, dass sich Mariam nicht erinnern konnte, ob ich ihr nun kondoliert hatte oder nicht. Es waren ja zwei Jahre vergangen, bei einem solchen Schmerz wird ein Mensch kaum darauf achten. Und schließlich könnte ich mich ja so verhalten, als hätte ich ihr kondoliert und das selbst in dem Fall, wenn sie sich daran erinnern würde, dass ich nicht Beileid gewünscht hätte, sodass sie an ihrer eigenen Erinnerung zweifeln müsste. Hier, und nur hier, begann mich die Frau mit ihrer Anwesenheit aufzuregen. Ihretwegen war ein Zusammentreffen mit Mariam nun unvermeidlich, während ich mich in den letzten zwei Jahren erfolgreich davor drücken konnte.
Das Auftauchen dieser Frau aus längst vergangenen Tagen war für meine Mutter völlig unerwartet. In ihrer offenherzigen Art wirkte sie erfreut, doch wenn man sie kannte, war zu merken, dass es ihr
unangenehm sein musste. Sie schätzt es überhaupt nicht, Gäste einzuladen oder irgendwo eingeladen zu sein, sie hielt das für Zeitverschwendung. Ich wusste auch, dass sie sich nicht würde zurückhalten können, mir einen tadelnden Blick zuzuwerfen, weil ich jemanden mitgebracht hatte. Wüsste ich denn nicht, dass „es drunter und drüber geht“. Bald zeigte sich der Grund des „Durcheinanderseins“, ein entfernter Verwandter des Nachbarn Barabbas war gestorben und meine Mutter drängte mich, dorthin zu gehen, um ein paar Worte des Beileids zu sagen. In Gegen wart von Mariam, der ich nicht einmal zum Tod ihres Sohnes, meines geliebten Klassen- und Spielkameraden Beileid gewünscht hatte, war ein solches Ansinnen eine außerordentliche Gefühllosigkeit, die sich vielleicht eine Bäuerin erlauben konnte, aber doch nicht meine Mutter, eine Lehrerin an der Höheren Schule, die am Institut einen eigenen Kurs in Kinderpädagogik absolviert hatte. Kleinlaut weigerte ich mich, und sagte, dass ich Barrabas kaum kenne und seinen entfernten Verwandten schon gar nicht. Vielleicht trauert auch Barrabas nicht wirklich um den Verlust des entfernten Verwandten, sodass mein Beileid nicht nur völlig unpassend ist, sondern sogar lächerlich. Als ich das so sagte, schaute ich unabsichtlich zu Mariam, zwang mich aber, meinen Blick schnell von ihr abzuwenden. Mariam entging das keineswegs. Wenn sie bis jetzt an ihrem Erinnerungsvermögen hatte zweifeln können, wenn sie es schlicht vergessen hätte, dass ich ihr kein Beileid wünschte, jetzt konnte sie keinen Zweifel mehr haben.
„So seid ihr, ihr Schriftsteller (Schreiber), falsche, falsche, falsche Menschen“, sagte Mariam oder sie schrie es vielmehr, und ging schluchzend in die Knie. „Ihr täuscht (betrügt) die Menschen, gebt euch nett und freundlich, in Wirklichkeit seid ihr aber herzlose Betrüger und schert euch nicht um die Nöte der Menschen.“
„Ja“, sagte meine Mutter, mit einem solchen Hass, der mich an den (nationalistischen) Hass von uns allen auf die Türken erinnerte, damals, bei den Demonstrationen 1989“ (eines der besonders dramatischen Ereignisse dieser Jahre war das Massaker in der aserbeidschanischen Stadt Sumgait an der dortigen armenischen Zivilbevölkerung d.Ü.). „Es war der Schriftsteller Toumanian, der, wenn die Menschen in Lori irgendetwas brauchten, zu ihnen kam. Schriftsteller waren auch Isahakian und Tscharentz, Pagountz, Shiraz … dann Sivla Kaboudikian …“
„Ihr dürft über die Leiden der Welt schreiben“, sagte Mariam schluchzend. „Das Leid der Welt kann jeder irgendwie ertragen, schwer ist es dem Leid eines Menschen zu widerstehen …“
„Der Schriftsteller soll aus dem Schoß des Volkes hervorkommen, um seine Nöte zu verinnerlichen (darin gebraten zu werden)“, setzte sich meine Mutter in Szene. „ … und du willst nicht einmal dorthin gehen, Barrabas kein Beileid wünschen. Was bist du für eine Schriftstellerin? Hamo Sahaian war ein Schriftsteller, oder Hrand … Nein, du und deine besoffenen Freunde, die von früh bis spät in den Kaffeehäusern die Stühle wetzen. Was wisst ihr schon über das Volk, ihr wollt Schriftsteller sein, ach du Schande ihr Faulpelze.“
„Ihr seid der reine Abschaum“, sagte die Bäuerin mit zusammen gebissenen Zähnen, stemmte die Hände an die Hüften und machte einen kämpferischen Schritt in meine Richtung, doch meine Mutter stoppte sie mit einer Handbewegung, die bedeutete, dass ich es doch gar nicht wert wäre, sie sollte doch lieber der niedergesunkenen Mariam aufhelfen.
„Wenn der Schriftsteller nicht aus dem Schoß des Volkes kommt, dann begibt sich das Volk in seinen Schoß“, sagte ich, um die ziemlich angespannte Stimmung doch ein wenig zu entspannen, doch dieser zarte scharfsinnige Einwand trug nicht nur nicht zur Entspannung bei, sondern wurde mit unverständlichen Blicken quittiert. Von der honigsüßen Freundlichkeit der Frau war gar nichts mehr übrig. Als wäre ich eine Braut, bei der im Bad körperliche Makel entdeckt worden waren, schaute sie nun mit Hass und Verachtung zu mir hin. Ich begann nervös zu werden und bereute, dass ich mich so freimütig von ihr vollschwatzen ließ, dass ich mich zum Esel machen ließ und mit derselben Freimütigkeit ihr Gepäck trug, das ich jetzt immer noch umgehängt hatte. Es machte mich auch nervös, dass ich nervös werden konnte, denn all das war doch wirklich ziemlich komisch und das, was ich tun sollte, war lächerlich – nur, von der guten Laune in der Früh war nichts mehr übrig, ich spürte, wie mein Nervensystem völlig durcheinander war, mein Herz war unruhig, ich spürte ein Würgen in meiner Kehle. Ich wollte ins Haus gehen, doch Zidan, der beim Tor stand, mit eingezogenem Schwanz, schaute mich aufmerksam an und fletschte seine Zähne.
„Und übrigens“, sagte ich, „Toumanian war von morgens bis abends besoffen, Terian hat darüber sogar ein Gedicht geschrieben „Da ist immer Saufen, nie Fadess, es lebe unser Jo-hann-es…“
„Das hat er schon richtig gemacht“, sagte meine Mutter, „mach es doch auch so, aber mit dem Volk und für das Volk.“
„Aber, hast du nicht gesagt, die dort oben fraßen und tranken, und das Volk hatte es bald satt?“
„Ja, das Volk war geistig am verhungern.“
„Aha“, spottete ich, „jetzt verstehe ich, was Isahakian mit der bevorstehenden „seelischen Hungersnot“ meinte, dass nämlich Toumanian kein Geld zum Saufen mehr hätte.“
Meine letzte Bemerkung wurde keiner Aufmerksamkeit gewürdigt, weil Mariam von Neuem zu schluchzen begann. Als ich auf ihre Hände schaute, mit den Adern, die noch mehr hervor gequollen waren, und die Ringe unter den Augen, die noch dunkler waren, als sie selbst mit fremder Hilfe nicht vom Boden aufstehen konnte, da musste ich denken, dass die Trauer der Mutter um ihr Kind keine echte Trauer war. Vielleicht war da mein Bedauern kein so feierliches Gefühl, doch sicher ehrlicher.
„Er sprach vom Hunger der Seele, vom Vaterland, von ganz großen Dingen und ging auf der Rialtobrücke und machte die Frauen an. Erst als Toumanian sein „Ehei, Avo, oh komm …“ schrieb, schauten die Mächtigen auf ihre Schriftsteller und gaben ihnen Kost und Logis, aber es kam kein Geld … “
„Hab doch ein wenig Ehrfurcht, Mädchen“, schrie meine Mutter, auch Zidan stimmte zu und kam bellend näher.
„Das ist noch gar nichts“, fuhr ich leidenschaftlich fort. „Mit welchem Geld hat den Toumanian gesoffen, war das nicht das Geld, das der Bruder ihm schickte, dieser Pfaffe, der das Volk ausnahm?
Ihr seid doch alle dieselben“, schrie Mariam, so durcheinander wie eine Lehrerin, die von den Schüler am Klo ertappt worden war.
In der Sowjetzeit hatten auch die Schriftsteller das Recht auf einen Heiligenschein, und zwar deshalb, weil der schreibende Mensch ja auch irgendwie ein Lehrer ist. Doch umgekehrt war nicht jeder Lehrer ein Schriftsteller. Es lässt sich sagen, dass der Schriftsteller dem Lehrer übergeordnet war. Deshalb träumte auch meine Mutter davon, Schriftstellerin zu werden – und das bedeutete, eine erfolgreiche Pädagogenkarriere zu machen. Sie schrieb an einem Tag so viele Gedichte, dass es Tage gedauert hätte, sie in einem Heft ins Reine zu schreiben. Weil sie am nächsten Tag aber auch eine ähnliche Menge schrieb, war eine Reinschrift völlig sinnlos.
„Nicht wahr, Mariam, unsere großen Köpfe dachten immer ans Volk“, sagte meine Mutter, „so wie jetzt auch Silva Kabudikian, als sie dem
Präsidenten ihren Orden ins Gesicht warf … denn, der echte Schriftsteller muss mit dem Volk sein, muss es leiten, so wie die Eltern das Kind …“
Silva Kabudikian war für meine Mutter wie für viele andere sowjetarmenische Frauen das große Vorbild. Während die Sowjetregierung für eine finanzielle Unabhängigkeit der Frauen sorgte, in dem sie ihre Arbeitskraft ausbeutete, und die finanziell unabhängigen Frauen mehr Selbstbestimmung und sexuelle Unabhängigkeit anstrebten, war das sowjetische System dennoch gegen die Scheidung. Silva Kabudikian gehörte da zu den wenigen Frauen, die geschieden waren und ihr Leben unverheiratet lebten. Als es so weit kam, dass sie wegen ihrer Gedichte gerichtlich belangt werden sollte, machte sich meine Mutter auf, sie zu besuchen, woraus sich nach und nach eine regelrechte Wallfahrt entwickelte.
„Das ist doch alles Theater“, sagte ich, „das Volk mag doch nur billige Tricks, das Gefällige macht bedürfnislos. Waren es bei allen Völkern nicht Brot und Spiele, was sie wollten? War es ein Volk, das Amerika entdeckt hat und das Atom? War es ein Volk, das die Relativitätstheorie hervorgebracht hat, die Gioconda, den Hamlet, die 9. Symphonie, nein, es waren einzelne Menschen, so wie ich …“
Ich hatte mich offenbar ziemlich hineingesteigert. Mariam war verstummt, alle andern auch, selbst Zidan, und sie schauten mich an. In ihren Blicken war etwas wie ängstliche Achtung, die Frauen eigen ist, wenn sie von ihren Männern geschlagen werden.
„Komm, hilf mit“, bat mich meine Mutter mit einem Seufzer, Mariam erinnerte sich wieder und ihr Jammern begann von Neuem.
So sehr wir auch versuchten, sie aufzurichten, sie sank immer tiefer zu Boden. Hätte ich zu ihr sagen können, dass es mir leid tut um ihren
Sohn, wäre diese Komödie schnell vorbei gewesen, doch genau das konnte ich eben nicht, bestimmt nicht.
„Unter anderem“, sagte ich, „hat Silva Kabudikian mit ihrem Vermögen eine Stiftung gegründet …“
„Recht so“, unterbrach mich meine Mutter, „hätte sie ihr literarisches Vermächtnis etwa dir überlassen sollen, damit du es in zwei Minuten in den Müll wirfst?“
„Wenn das in zwei Minuten möglich ist, dann gern.“
„Jetzt hör einmal zu“, unterbrach mich meine Mutter, ganz rot vor Zorn, „das wirst du dir merken du billige Göre.“
Zidan kam bellend zu mir, er hätte mich wohl auch gebissen, wenn ich nicht zurückgewichen wäre.
„Wo soll ich hin?“, fragte ich und meine Frage klang sehr rhetorisch.
„Dorthin, woher du gekommen bist,“ antwortete meine Mutter ebenso rhetorisch.
Das Gepäck der Bäuerin lastete nun nicht nur auf meinem Körper, sondern auch auf meiner Seele, hätte ich es abgestellt, wäre ich aber hingefallen. Zidan wartete wohl nur darauf, um mich dann an der Gurgel zu packen. Mit meiner Last konnte ich auch nicht weit gehen und so ging ich nur bis ans Ende der Sackgasse.
„Wohin gehst du?“, fragte die Bäuerin beunruhigt.
„Sie soll ruhig gehen“, beruhigte meine Mutter, in die Richtung kommt sie nicht weit.
Ich hörte das Jammern von Mariam, das Bellen Zidans, das Schimpfen meiner Mutter und dachte: Ist es möglich, dass das alles wahr ist, so absurd, so unwirklich. Das einzig Wahre war in diesem Spiel der Tod von Jesus und der Tod überhaupt. Das Leben erschien mir in diesem Moment wie eine Medizin gegen die Wirklichkeit, so wie Analgin gegen
Kopfschmerz. Es zeigte seine Wirkung, denn mir ging folgendes durch den Kopf:
„Wenn aber die Schriftsteller die Eltern des Volkes sind“, schrie ich, ohne mich umzudrehen, „wer sind dann die Eltern der Schriftsteller?“
„Das Volk“, sagte meine Mutter und sagte es noch einmal, damit es alle verstanden, sehr betont: „Das Volk.“
„Verstehe“, schrie ich, dann sind also die Schriftsteller die Eltern der Schriftsteller.“
Wie zur Bestätigung traf mich ein kleiner Stein im Rücken, sodass das Huhn, das mit meinen Haaren spielte, erschrak und zu gackern begann. Zidan war hinter dem Stein her zu mir gelaufen und bellte so, als würde er das Huhn anbellen, doch meiner Mutter schien es aus der Entfernung so, als wäre ich gemeint.
„Und du, Brutus“, sagte ich und – interessanterweise – es wirkte, wie bei „Tischlein deck dich“. Ja, wieso sollte es nicht funktionieren, das fehlte noch, Shakespeare hatte es geschrieben, ja, die Schriftsteller sind die Eltern des Volkes. Doch lang hielt bei unserem Hund die Wirkung nicht an, er bellte wieder und lief mir nach, wenn auch mit etwas Abstand. Das Huhn in der Tasche schlug ängstlich mit den Flügeln und versuchte, mich in den Nacken zu hacken. Ich ging weiter und dachte an das Volk als den Schoß des Schriftstellers, und den Schriftsteller als Schoß des Volkes – verdien die einander? Schade um meine Sommerferien. Wusste ich noch, woher ich gekommen war? War es Stepanavan? Was war es …? Ich wollte mich an die Strecke erinnern, wie auch immer, ich müsste es doch gehört haben. Ich schloss meine Augen und versuchte mich zu erinnern, welche Namen an die Scheibe des Autobusses geklebt waren. Es gelang nicht richtig, ich hatte „Stepanavan“ vor Augen, sonst nichts. Was könnte es gewesen sein, es müsste der Name eines der vielen Bolschewiken gewesen sein, so wie Stepanavan, dessen einzige Sehenswürdigkeit wohl das Haus des Schwiegervaters von Stepan Shahoumian ist, neben einem viel größeren Gebäude und den Mauern des Museums. Ich müsste mich erinnern, mit wem er in schlaflosen Nächten den Schwiegersohn des Hausherrn überzeugte und Pläne schmiedete, um Armenien dem Wladimir Iljitsch zu Füßen zu legen, wofür er später in den sowjetischen Geschichtsbüchern zum Helden gemacht worden war. Gamo? … Nein. Vielleicht Asisbekov? … Kirov? … Nein, es war ein anderer Name. Spandarian? … Miasnikian? … wenn ich das vergessen habe, sollte ich es doch besser nie gewusst haben. Ich hätte natürlich die Bäuerin fragen können, doch ich stellte mir ihren verdrehten, hasserfüllten Blick vor und zog es vor, meine Erinnerung anzustrengen. Goubitchev? … Tscherschinki?... Bucharin?... Trotzki? …
Vor mir war eine Mauer, aber nicht die Mauer zum Erschossenwerden, auch nicht irgendeine abstrakte Mauer, im metaphorischen Sinn. Es war eine ganz normale sowjetische Mauer, dick, fest gefügt, mit glatten Steinen verkleidet, es war die Festungsmauer der Nähfabrik, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion den Ratten überlassen worden war.
Übersetzer Herbert Maurer
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